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  Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag

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Author Topic:   Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag
Gudrun Kolbe
nicht registriert
posted 13 July 2005 09:13           Edit/Delete Message
Gudrun Kolbe 2005

Wilhelm Genazino „Ein Regenschirm für diesen Tag.“


Der Regenschirm (S.105) im Titel entspricht dem Körper, der als Schutz für die Seele fungiert, vielleicht so etwa wie das sprichwörtliche ‚dicke Fell’. Der Erzähler, eine Kunstfigur ohne Namen, beschreibt, wie er bedrückenden Alltagsbeobachtungen ungeschützt (ohne Schirm) ausgeliefert ist. (‚ Das Leben ist nichts als ein langgezogener Regentag …..und der Körper nichts als der Regenschirm für diesen Tag’…)Das bezieht sich auf viele Kleinigkeiten, die ihn bedrängen, die sein Leben, sein Denken, seine Gefühle bestimmen…… auf alltägliche Nebensächlichkeiten, die zur Belastung werden, wie z.B. bereits zu Beginn des Buches nachzuempfinden. Dort sind es ausgelöste Ekelgefühle; ( S.7 „Ich bedaure, dass ich neuerdings so schnell abgestoßen bin“) .Er beobachtet mit Abscheu, wie: …..die Spuke zweier Schüler die Litfass-Säule herunterrinnt“.

Der Mensch, der hier von sich erzählt, ist (nach eigner Aussage), ein Versager, Einzelgänger, Snob, Oberästhet… Er gestaltet sein Leben nach seinen komplizierten Vorstellungen, ist dabei beruflich und gesellschaftlich nicht gerade ‚0ben’ eingeordnet, (jobbt für einen Schuhhersteller) also beruflich nicht anerkannt, eher gescheitert. Er hat nach seinem Selbstbild versagt, leidet unter der Paradoxie des Lebens und steht der (was für ein Ausdruck!! „Widerlichkeit des Wirklichen“ immer wieder ungeschützt gegenüber, weil ihm alles Ungereimte unangenehm und sehr bedeutsam erscheint und unter die Haut geht. Aber, er wehrt sich nicht, flieht, duldet schweigend alle bedrängenden Ärgernisse und Ungerechtigkeiten (verliehenes Geld wird nicht zurückgefordert, er lässt sich übervorteilen, geht dann seiner Wege; muss erleben, dass ihm eine Frau ausgespannt wird, was zumindest kurzzeitig Schmerz bereitet, alles wird ohne ausdrückliche Gegenwehr eingesteckt. ) Diese Hauptfigur wirkt in allem wie ferngelenkt; ein staunendes, fragendes Kind, das keine Antwort erhält auf den Sinn des Lebens, der sich in den Widrigkeiten des Alltags um die Seele legt. Es fehlt die Distanz zur generell fehlenden Wahrheit von Worten oder Gerechtigkeit, die Akzeptanz gegensätzlicher Pole, die das Leben nun mal bestimmen. Es fehlt eben eine Abschirmung gegen die Realität. (‚Die Erlebnisse sollten wieder etwas mit einem selbst zu tun haben’ S. 105 wünscht er sich.) So bleiben unerfüllte Sehnsüchte und Träume., aber auch die ständige Angst vor dem eigenen Scheitern. Dieser Mensch hat seine eigene empfindsame tiefgehende Weltschau entwickelt. Er ‚trödelt’ etwas ziellos in den Kleinigkeiten des Alltags herum, (S.78 „……wenn ich auf eine halbwegs anständige Weise ermüdet bin, …kann ich damit aufhören, mein Leben zu verdächtigen“. Durch einen ungeliebten unsinnigen Job als Schuhtester wird notwendigerweise etwas Geld zum Lebensunterhalt verdient. Er testet für eine Firma nicht gerade sinnerfüllend teure ‚Edelschuhe’ und beschreibt dann für Lohn eher unernst und lässig,sich selbst übewindend, seine überflüssigen Erfahrungen. S. 82 „Wer wie ich leben muss, ohne die Genehmigung zu diesem Leben erteilt zu haben, ist aus Fluchtgründen viel unterwegs und legt deswegen auf Schuhe größten Wert….. Schuhe als Metapher: Flucht vor sich selbst und allem anderen……. (In diesen humorvollen Betrachtungen der sozialen Umwelt schimmert auch stets so etwas wie Humor hervor, der allerdings versteckt auftritt.) Gleichgültig gegenüber den Aufgaben des Jobs und angeekelt von dem dortigen Vorgesetzten, dem Menschen, der ‚Habedank’ heißt, dem man zuhören
m u s s , weil man abhängig ist, schreibt er S.81..“ Mein Dünkel lächelt ein wenig. S. 80 „Mein Dünkel besteht aus einem fast permanenten Zusammenstoß von Demut und Ekel.“…….Einerseits mahnt mich die Demut: …………. Und gleichzeitig stichelt der Ekel gegen mich…..Wenn du jetzt nicht fliehst, gehst du in den Ausdünstungen deiner Mitmenschen unter.“ Für ihn sind diese Kontakte ekelhafte „Zusammenstöße“.

Immer wieder wird deutlich, es fehlt der Regenschirm: der Abstand, um das Leben - wie es ist - zu ertragen und zu tolerieren. S. 39 „Nachmittags findet eine Art Zerbröckelung meiner Person statt, gegen die ich wehrlos bin, eine Zerfaserung oder Ausfransung. Ich vergesse dann, dass es im Leben Hauptsachen und Nebensachen gibt, weil irgendeine Nebensache in mich eindringt und mich nicht mehr freigibt.“ Er wird geleitet und gelenkt von ständiger Sinnsuche, mit den verstörten Kinderaugen, (dahinter spürt man allerdings immer wieder eine ziemlich konkrete Weltschau), die um sich herum durch die Zeichen der Natur versöhnt wird, aber im menschlichen Leben und Treiben einfach keinen Halt findet. ( S. 67 Ich brach den Versuch des Verstehens ab…..bis heute ……….ich gerate in eine Stimmung des kindlichen Wartens, wenn die Kompliziertheit überhand nimmt…..)So wird er zum Außenseiter, einer, der sich nicht zugesteht, sich den gesellschaftlich verordneten Regeln und dem bestehenden Leistungsdruck oder den oberflächlichen Strukturen dieser Gesellschaft anzupassen.
Die Starre seiner eigenen Strukturen erschwert natürlich alle Beziehungen zu anderen Menschen, die um ihn herum – kritisch wahrgenommen - ihr Leben eben den gegebenen oft sinnlosen Normen anpassen.

Geprägt ist diese Weltschau durch Kindheitserlebnisse, die als traumatisch erlebt werden. Eines der ersten derartigen Erlebnisse, wird mit dem Eintritt in den Kindergarten geschildert. Die Mutter – wohl depressiv oder sozial gestört (…. ihr erschien die Welt nicht sehenswert S. 64) ist für das Kind unerreichbar. Sie ist „ abwesend wie der Tod“, sie versteckt sich hinter ihrem Staubsauger, sie ist saugend – nicht gebend. Die Darstellung einer Szene, der Kuss der Mutter, verstärkt den Eindruck von prägenden Kindheitserlebnissen, erlebte Einsamkeit und unerfüllte Sehnsucht nach Wärme. Ein Netz vom Hut über dem Gesicht der Mutter symbolisiert ihre Unerreichbarkeit. So befindet sich vor ihrem Mund ein Netz, als ihr kleiner Sohn ihr einen Kuss geben will. (S.36) „Das Hautgefühl der Verschnürung…“, heißt es, wirkt wohl lebenslang nach. Hier liegen sicher auch Gründe für verstärkt weiter wirkende Minderwertigkeitsgefühle. „ Leuten wie mir soll mitgeteilt werden, dass sie verschwinden oder umgebaut werden sollen wie alte Häuser.“ Immer wieder wird von dem Erzähler gefordert, dass seine Kindheit nicht angesprochen werden darf. Sie wird verdrängt; es darf einfach nicht darüber geredet werden. Zudecken, Schweigen und Flüchten wird als die beste Möglichkeit betrachtet, nicht mehr mit den schmerzhaften Enttäuschungen konfrontiert zu werden. Der Vater wird übrigens so gut wie gar nicht erwähnt. Auf S. 36 wird geschildert, dass auch er kaum über Netzküsse (von seiner Frau) hinaus kam. S.41 …dass er fleißig von seinem sechzehnten Lebensjahr bis zu seinem Tod gearbeitet hat, (ganz im Gegenteil zu seinem Sohn!, so dass dieser wohl vom Vater als Versager betrachtet werden musste). So wirken die Kindheitserlebnisse durchgängig und greifen immer wieder an. (Freud pur) Der Erzähler beklagt mehrfach, dass „ er ohne seine innere Genehmigung (S. 14) auf der Welt ist“. (Welchen Sinn soll denn das Leben haben??). So ist denn auch im weiteren Leben jede Kommunikation erschwert. Es ist eben nicht möglich (mit einer von Sehnsucht ungeschützten Seele auf kindlicher Stufe) größere Toleranz und Unabhängigkeiten in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu entwickeln. So zieht man sich lieber zurück, schweigt, kann es auf der Welt nicht aushalten, weil alles durch die Haut dringt und verabscheuungswürdig ist.

Beobachtungen wie die des Mädchens mit dem Pferd (S.10) verweisen auf Gedanken zur Sexualität und Pubertät. Oder weitere Berichte beziehen sich z.B. auf einen Ausschnitt im Leben des zwölfjährigen Erzählers am Stadtbrunnen. Einsamkeit lässt sich bereits erkennen, Abwendung von den andern Personen. Beschäftigung und Handeln geschehen ohne Kommunikation oder Beachtung durch umgebenden Personen (S.15). (S. 92) Weitere Schilderungen aus der Pubertät : „Ich erinnere mich an einen Spruch, den ich als Sechzehnjähriger über Krankenschwestern…….gedacht habe..“.

Die Kontaktpersonen sind bemerkenswert. Der Freund Himmelsbach erscheint in vielen Dingen wie sein Alter Ego. Himmelsbach bekommt beruflich nichts zu Stande. Er muss sich Geld leihen, benutzt andere und schnorrt. Sucht immer direkt seinen eigenenVorteil. Zahlt auch Freunden nichts zurück, ist unverbindlich und unzuverlässig und am Ende richtig gescheitert. Dem betroffenen Erzähler kommt aber eher der Gedanke, Himmelsbach zu schützen, als sich gegen ihn aufzulehnen. Am Ende schafft es aber auch dies nicht, eben weil er lahm ist oder sich nicht aufraffen kann. Es gelingt ihm ja selbst nicht, sein inneres Kind zu schützen, (S. 23) weil der Regenschirm offenbar noch fehlt. Behinderte Menschen kommen immer wieder vor in den Alltagsbeschreibungen. Hier zeigt sich eine Solidarität mit den Betroffenen. Der Erzähler hat auf andere Weise große Probleme den Alltag zu bestehen. Sein Rollstuhl ist ein anderer. So äußert er immer wieder Ängste vor einem totalem sozialen und materiellen Abrutschen.

Seine Beziehungen zu Frauen sind schwierig. Er leidet noch unter einer Trennung von Lisa, einer Frau mit der er länger zusammengelebt hatte. Andere neue Beziehungen, die gesucht werden, gelingen nicht. Doris, die er zufällig trifft und die seinen Wunsch ignoriert, nicht über seine Kindheit zu reden, wird von ihm bösartig zurechtgewiesen (S. 31). Er beleidigt sie, was aber bei ihr nicht ankommt, da sie ihm ständig nicht zuhört und wahrnimmt.

Die Trauer um Lisa, die ihn für viele Jahre verstanden hat (S.41) mit der er (auf ihre Kosten) zusammenlebte, die ihn aber dann doch verlassen hat, weil er ein Träumer blieb und sich nicht weiterentwickeln mochte, ist tief und nachhaltig.
S.40 „Ich muss nicht selber Weinen, das Weinen tritt nur momentweise von innen an mich heran und verschwindet dann wieder. Vielleicht zeigt Lisa ganz ähnliche Züge wie der Icherzähler. So ist auch sie gescheitert als Lehrerin in der Schule, weil sie mit der Realität, hier der Frechheit der Kinder, nicht zurecht kam. Der Erzähler beschreibt seine Beziehung zu Lisa im Sinne von ‚Wohlgefallen’( Luther (S.35) - alles Leid hat ein Ende). Leider verlässt Lisa ihn ( den Nichtsnutz) dennoch, angestachelt von ihrer Freundin, nachdem sie ihm weiterhin eine finanzielle Stütze bietet, was eigentlich wohl eher verletzend als hilfreichsein mag , weil damit Beziehung und Trauer schwerlich enden können. Außerdem entstehen Schamgefühle (S. 43). (S.42 Wie soll ich mich von einer Frau lösen, die sich mit einer fast unbegreiflichen Großherzigkeit ungefähr zweieinhalb Jahre lang von mir verabschiedet?) Später, als er sich dann doch weiterentwickelt hat, löst er das Konto von Lisa auf und regelt damit diesen Teil seiner Gefühle.

Auf S. 44 gibt der Erzähler eine traurige weitere Persönlichkeitsbeschreibung von sich: “Genau wie ein Staubfluse bin ich halb durchsichtig, im Kern weich, äußerlich nachgiebig und übertrieben anhänglich und außerdem schweigsam“ (Viel Melancholie ohne Lebenskraft.) S. 46 „Jetzt breitet sich das Schicksal aus, das nicht genehmigte Leben. Ich bin immer melancholisch geworden, wenn ich kämpfen sollte. Ich werde kämpfen müssen, also werde ich melancholisch.“

Schließlich wird auch die berufliche Situation als Schuhtester noch unerfreulicher, der Verdienst wird reduziert. Der knappe Lebensunterhalt wird durch aufgezwungene Veränderungen weiter reduziert. Die Kontakte mit dem Vorgesetzten Habedank, von dem er ja abhängig ist, sind kaum zu ertragen. Er empfindet sie als „Zusammenstoß von Demut und Ekel“ S.80. S. 79 „Ich habe diesen Dünkel von meiner Mutter geerbt. Mit ihr glaube ich, dass es sich nicht lohnt, die Welt ein ganzes Leben anzuschauen“.

Bei der Friseurin Margot sucht er Trost. Reife Sexualität gelingt nicht, weil die Gedanken abschweifen. Er denkt an Lisa und kommt auf die Idee, Lisas verlassenes Zimmer mit Blättern aufzufüllen. (Kindheitsträume). (S. 57): „Der Abbruch des Beischlafs ist jetzt so etwas wie eine von Margot ermöglichte Ersparnis von Trauer.“ Hier wird vermieden, dass ein tieferes Gefühl zwischen beiden entsteht. „Bisher habe ich Margot nie Geld gegeben. Aber heute drängt es mich, etwas Geld hierzulassen…“ Hier wird etwas formal geregelt, was beinahe tiefere Gefühle entwickelt hätte. Auch in dieser Situation wird jedes Gespräch vermieden, auch wenn eine gewisse Solidarität mit Margot entsteht. „Auch sie ist nicht gerechtfertigt, ich fühle es. Ich habe das Bedürfnis, mit ihr über das nicht genehmigte Leben zu sprechen…..Zugleich befürchte ich, dass ich einem Gespräch über das nicht genehmigte Leben im Augenblick nicht gewachsen wäre. Ich hätte wie als Kind wieder das Gefühl, dass ich von fast allem, was sich ereignet, immer nur den Anfang verstehe.“ Die Idee mit den Blättern, (frohe Kindheitserlebnisse) für das leer stehende, von Lisa verlassene Zimmer wird später auch verwirklicht, so lange bis sie verwelken (Metapher) und damit wohl auch die Trauer und ein Neubeginn (?) möglich wird.
Eine weitere Frau, Susanne, die er schon als Kind kannte, bringt Aktivität, so eine Art neuere Entwicklung und verändert einiges im Leben des Erzählers. Sie mag ihn, obwohl er wegen seiner Minderwertigkeitskomplexe nicht daran glauben mag. Eigentlich ist sie „zu schön für ihn“. Er glaubt, er sei nicht gut genug für sie. S. 76 „Weit und breit gibt es niemanden, der meine peinlichen Gedanken darüber verscheucht, ob ich für Susanne bedeutend genug bin oder nicht……..Meiner Bildung nach könnte ich bedeutend sein, meiner Stellung nach nicht.“

Auf einer Party, zu der sie ihn in ihre ‚perfekt gestilte’ Wohnung einlädt, will er nun wirklich beeindrucken, weil es Susanne gefällt; und er bannt alle Anwesenden mit seinen Gesprächen und seiner Philosophie. Als er bemerkt, wie er Susanne damit begeistert, legt er sich weiter ins Zeug und ist der überlegene und spritzige Unterhalter des Abends, ganz entgegen seiner sonstigen Art. ( Hier kämpft er, wenn auch nur um ihre Zuwendung). Übrigens trifft er auf dieser Party auch Himmelsbach, der jetzt mit Margot, der Friseurin befreundet ist, was trotz der nicht erfüllten, eher bezahlten Kontakte ihn doch noch schmerzlich berührt.


Die Entwicklung geht mit Susanne und auch im sonstigen Leben voran. S.166 „Ich höre auf, der blinde Passagier meines eigenen Lebens zu sein!“ „Endlich gleitet Lisa wieder aus meinen Gedanken heraus.“ Beruflich geht es dann mit einer Anstellung auch weiter. D.h. gesellschaftliche Anforderungen werden nun eher erfüllt. S. 171 „Die Unruhe über mein fast gescheitertes Leben verwandelt sich in Aufregung über den gerade noch gefundenen Ausweg.“ Ob es wohl wirklich einer ist……S. 171 „Ich bin verwickelt in die widerliche Arbeit oder in die Arbeit an der Wirklichkeit oder in die Widerlichkeit des Wirklichen……
S. 172 „Ich muß das Gefühl des Gerölls weiter mit mir herumtragen.“

Vielleicht bleibt der Regenschirm auch weiterhin geöffnet……….……

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