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29.01.2008, 20:57 | #1 |
Moderatorin
Dabei seit: 12/2002
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Renommee-Modifikator: 22 |
Gebrauchsanweisung für den Zauberberg.
Wenn wir seit Oktober gute vier Monate Zeit für diesen Roman haben, brauchen wir sie auch: denn diese rund 1000 Seiten haben es in sich – wobei ich hoffe, dass es vielen so geht wie mir: wenn ich mir die Zeit nehme, ist das Lesen ein Hochgenuss. Zeit ist das Stichwort. Thomas Mann selbst hat Studenten in Princeton folgendes gesagt: „Er (der Zauberberg) ist ein Zeitroman im doppelten Sinn: einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist, den er nicht nur als die Erfahrung seines Helden, sondern auch in und durch sich selbst behandelt. Das Buch ist selbst das, wovon es erzählt; denn indem es die hermetische Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose schildert, strebt es selbst durch seine künstlerischen Mittel die Aufhebung der Zeit an … "(1939) Soweit so gut, gebe ich einige Stichworte in aller Kürze (lange Sätze genießen wir als Leser ja grad zur Genüge). Hauptthema ist also die Zeit, genauer: die Aufhebung der Zeit noch genauer: was geschieht mit dem Menschen, wenn die Zeit aufgehoben wird. Wir werden also untersuchen, wie Thomas Mann die Aufhebung der Zeit formal gestaltet: Hinweise: Kapitel 1-3 umfassen mit einer Rückblende den ersten Tag (!), im Abschnitt „Hippe“ des vierten Kapitels sind 6 Tage vergangen, nach fünf Kapiteln knapp ein Dreivierteljahr. Die restlichen sechseinviertel Jahre spielen sich in den letzten beiden Kapiteln ab, wobei jedes der sieben Kapitel für sich länger ist als das vorhergehende. Man achte auf die Zahl sieben. Sieben reine Schreibjahre hat Thomas Mann gebraucht (es gab eine Pause zwischen Teil 1 und 2) für sieben Lebensjahre. Es gibt sieben Kapitel, 52 Unterkapitel (Quersumme 7) sowie die berühmte Zimmernummer 34 (Quersumme 7). Thomas Mann beschreibt seinen Roman als Symphonie des Wortes mit Leitmotiven (er schrieb wie Wagner komponierte, den er ja sehr liebte). Das entspricht unserer Definition des geschlossenen Romans. Darum empfiehlt er auch, das Buch mindestens zweimal zu lesen … … Hier seien einige der Leitmotive genannt: Der steife Halskragen des Großvaters Der Bleistift Das Türenknallen Die zyklische Widerkehr von Ereignissen eingebettet in die Jahreszeiten wie: wer holt oder bringt wen zum Bahnhof. Hans Castorp auf seiner Heldenreise durch den Zauberberg ist eine besondere Variation des Helden, den wir als als Odysseus, Parsifal (oder Tannhäuser - Zauberberg=Venusberg!) kennen, modern begegnet er uns im Herrn der Ringe oder im Medienzauberer Harry Potter. Denn während diese in einen verstehenden Helden des Lebens hineinwachsen, endet Hans anonym im Todestanz des ersten Weltkrieges (was sich nicht widersprechen muss). Darum ist das zweite Thema dieses Romans der Tod, was in einem Lungensanatorium ja auch nicht wunder tut. Es gibt genau einen hervorgehobenen Satz im ganzen Roman, der in unserer Ausgabe mit dieser Besonderheit kaum auffällt, aber als alles übergreifendes Motto verstanden sein will: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ (S. 679) Dieser Satz gehört zu Thomas Mann, zweifellos, es gibt kaum eine Familie, die sich derart konfrontierte mit dem Tod auch durch Selbstmord. Es überrascht nicht,dass wir drei Selbstmorden begegnen: Naphta, Mynheer Peeperkorn und indirekt Joachim. Direkt verbunden mit dem Thema Tod ist das Thema Eros, womit Madame Chauchat ins Spiel kommt. Da wir nur zwei Stunden Zeit haben, werden wir uns um den Grundaufbau kümmern, insbesondere das Kapitel „Schnee“ anschauen – was ein bisschen pädagogisch und damit auch anstrengend ist. Darum biete ich auch noch das Kapitel „Abgewiesener Angriff“ an, das den Besuch von James Tienappel beschreibt (durch und durch witzig übrigens). Worauf wir nicht eingehen werden, sind die Diskussionen von Settembrini und Naphta, es reicht, ihre Funktion zu verstehen. Und wer es geschafft hat, die letzten Kapitel zu erreichen, dem wünsche ich uneingeschränktes Vergnügen mit Herrn Peeperkorn, der im Gegensatz zu Thomas Mann so gut wie keinen Satz zu Ende bringt und unglaubliches Vergnügen bereitet in seiner selbstverständlichen Grandezza. Wer stattdessen oder ergänzend sich den Roman mit anderen Mitteln erobern möchte, dem sei empfohlen, sich die DVD zu gönnen, die aus der 6stündigen Fernsehfassung eine geraffte Kinofassung zeigt. Sehr empfehlenswert! Sekundärliteratur wie immer Königs Erläuterungen, oder aber die kongeniale Kapitelzusammenfassung von Dirk Heißerer. Ich habe mir die Breloer-Jahrhundert-Verfilmung der Familie Mann mit Armins Müller-Stahl und Monica Bleibtreu gegönnt. Näher war ich selten dran an diesem literarischen Zauberer und seinem Leben als zur Zeit, und ich bin begeistert. (P.s.: alle diese Beigaben kann man in einer kleinen Buchhandlung in der Wik bestellen … ). ------------------ Meike Lalowski [This message has been edited by Meike Lalowski (edited 30 January 2008).] |
30.01.2008, 01:01 | #2 |
Gast
Beiträge: n/a
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und 7 Tische
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30.01.2008, 10:44 | #3 |
Moderatorin
Dabei seit: 12/2002
Beiträge: 486
Renommee-Modifikator: 22 |
... und an jedem dieser 7 Tische sitzt unser Hans Castorp bummelig ein Jahr.
Auch isst er wohl von diesem und jenem Tellerchen oder trinkt aus diversen Becherchen - schläft (im übertragenen Sinne) in den Persönlichkeitsbettchen seiner Zauberbergmitmenschen. Anders ausgedrückt: Thomas Mann hat ausdrücklich einen uninteressanten Helden geschaffen, der nur deshalb (s)eine Bedeutung entwickelt, weil er in der selbstgewählten Hermetik des Sanatoriums nicht nur in der Zeit verloren geht, sondern sich genau dadurch im Spiegel der anderen erleben lernt. (Ihr seht: ich lerne lange Sätze!) Im letzten Kapitel heißt es auf S. 796: "Er täuschte sich auch nicht darin, dass die Mitglieder seines buntscheckigen Freundeskreises sich wenigsten daran gewöhnen, dass sie sich nicht aneinander gewöhnten: Spannungen, Fremdheiten, sogar stille Feindeseligkeiten gab es ganz selbstverständlich zwischen ihnen, und wir wundern uns selbst, wie es unserem unbedeutendem Helden gelingen mochte, sie um sich zu halten, - wir erklären es uns mit einer gewissen verschmitzten Lebensfreundlichkeit seines Wesens, die ihn alles "hörenswert" finden ließ und die man Verbindlichkeit selbst in dem Sinne nennen könnte, dass sie nicht nur ihm die ungleichartigsten Personen und Persönlichkeiten, sondern bis zu einem gewissen Grad sogar diese untereinander verband." Aber ein Schneewittchen ist dieser NichtHeld nun doch nicht, eher ein Junge mit Schwefelhölzern (Schneekapitel!), wie sich so einige Hinweise auf insbesonders Andersens Märchen im Zauberberg finden lassen - darüber gibt es jedenfalls ein ganzes Buch von Herrn Maar. Ich wünsche Euch weiterhin eine märchenzauberhafte Lektüre. ------------------ Meike Lalowski [This message has been edited by Meike Lalowski (edited 30 January 2008).] |
15.10.2009, 02:42 | #4 |
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Renommee-Modifikator: 0 |
Settembrini - doch gefragt
Ist er dem Vögelchen gleich, dass dem Wagnerischen Nibelungen die (eine) Richtung weist? Will auf die Realität hinweisen, so fehl am Platz in diesem Buch?
Zwischenfrage nach so fünf Kapiteln. Die Zeit, die Zeit, welche die für mich doch schwer verdauliche Kost so unnahbar macht. A. |
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