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Alt 14.10.2004, 18:20   #6
Meike Lalowski
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Meike Lalowski befindet sich auf einem aufstrebenden Ast
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Immer wieder geschieht es in Seminaren, dass TeilnehmerInnen von anderen als scheinheilig empfunden werden. Und oft dann auch so „enttarnt“ werden.

Das ist jedesmal eine ganz heikle Angelegenheit, denn aller Erfahrung nach ist es so, dass die meisten anderen Schatten deutlich beliebter sind, sogar so eklige Dinge wie Geiz oder Rachsucht oder ähnliche Schweinereien (die übrigens nur durch ein „w“ von Scheinereien getrennt sind, was by the way ein ganz neues Licht auf den „Schweinepriester“ wirft).

Es scheint sich also um einen besonderen Betrug zu handeln, denn es gibt ja eine Menge Dinge, die in einem „Scheinmantel“ daherspaziert kommen: Scheinfreundlichkeit, Scheinverständnis, Scheinliebe ... da gibt es beliebige Varianten.

Aber das mit der Heiligkeit ist eben ein besonderer Schein, erwarten wir dort doch die ganz nahe Nähe zu Gott und damit auch höchste Verläßlichkeit. Und da im Namen Gottes eine Menge Unheil regel-recht hochheilig gehandelt wird, ist der Betrug hoch angesiedelt. Entsprechend empört werden ungerechtfertigte Heiligenscheine von den Köpfen gefegt.

Aber andere zu enttarnen ist erstens einfach, zweitens oft ein Hochgenuß (wir sind doch irgendwie auch gerne teuflisch schadenfroh) und drittens schlichtweg Eigennutz: schützt es uns vor dem eigenen Balken.

Erstaunlich, dass wir so streng mit anderen umgehen und so peinvoll beschämt in der Eigenwahrnehmung reagieren. Denn diese Heiligkeit zum Schein ist doch nur die andere Seite der Medaille, der Sehnsucht nach „Heilsein“. Also betrügen wir uns oder die anderen, um darüber hinweg zu täuschen, dass wir uns alles andere als heil fühlen. Nämlich schuldig, unvollkommen und schlecht. Zum Schämen eben.

Das führt zu kleinen und großen Inquisitionen im Namen Gottes, um die große Not zu verbergen: wir sind so schrecklich, dass wir ganz bestimmt keine Liebe verdienen. Schon gar nicht die von Gott.

Da bietet sich die Projektion an: ich heilig, du sündig. Sie schützt allerdings nicht vor der Hölle, sie ist die Hölle.

Um auf die Seminarsituation zurückzukommen. Wann immer dieses Thema auftaucht, erfordert es ganz besonderes Fingerspitzengefühl. Denn wenn Scheinheilige erstmal tüchtig wütend gemacht haben, tobt die entsprechende Reaktion. Da sind wir dann gefordert: erkennen, benennen, die Scheinheiligen entlasten vom eigenen Spiegelblick. Der Liebe Brücken bauen.

Denn ein Gesichtsverlust macht es noch schwerer, der eigenen Scheinheiligkeit ins Gesicht zu schauen. In dem Sinne: Gnade dem heiligen Schein durch heilende Sicht.


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Meike Lalowski



[This message has been edited by Meike Lalowski (edited 15 October 2004).]
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